Auf der Suche nach einem anderen Leben (biographische Skizze)

Soziologie

Nach einigen Umzügen zwischen 1959 und 1979, einer Banklehre in Düsseldorf, dem Studium der Agrarwissenschaften in Gießen und „Internationale Agrarentwicklung“ in Berlin habe ich von 1988 bis 2004 als Agrar- und Umweltsoziologe an der Universität Gießen und am Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung in Marburg gelehrt und geforscht.

Dem Wissenschaftssystem gelingt es trotz seiner – auch wegen seiner publikations- und damit kapitalgetriebenen – Erkenntnisherstellung zu wenig, die Welt solidarischer, freier und schöner zu machen. Liegt es auch daran, dass uns Menschen – und damit auch den Wissenschaftlerinnen – unsere natürlichen Untergründe und geistig-historischen Hintergründe fremd geworden sind? Liegt es an unserer kapitalen Lebensweise und somit an unserem kapitalen Ich, das die kapitalen Systeme und damit auch das Wissenschaftssystem und vor allem ihre Technologien nachfragt? Wie kann ich – wenn dem so wäre – mein eigenes kapitales Ich verändern? Wie wären „andere Zustände“ (Musil) und ein anderes Leben möglich? Und wie sähen die Übergänge dahin aus? Ist eine andere, nicht kapitale Gesellschaft möglich?

Pädagogik

Von 2004 bis 2021 habe ich Geschichte, Geographie und Politik am Internat der École d’Humanité im Berner Oberland und in Freiburg im Breisgau an einer Waldorfschule unterrichtet. Wichtig sind mir dabei Bilder unserer Geistesgeschichte geworden: Die Odyssee bei Homer, das Höhlengleichnis von Platon, der Mythos des Sisyphos von Camus, der Engel der Geschichte von Walter Benjamin. Die Schülerinnen haben mich motiviert, eine freilassende Lernmethode auszuprobieren, damit sie ihre eigenen Themen, Zugänge und Interessen suchen können, ohne verbindliche Hausaufgaben, ohne verbindliche Tests und Prüfungen.

Nur mittels eines Portfolios aus ihren selbstgewählten Texten könnten sich Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen bilden, so hoffte ich. Warum kann auch die Reform- bzw. Waldorfpädagogik ihre befreienden Absichten nur selten verwirklichen? Hängt es an ihrem idealistischen Charakter oder an der Einbettung in eine kapitale Gesellschaft oder an den handelnden Personen? Warum ist und bleibt es schwierig, frei, selbstverantwortlich und man-selbst zu werden? Besteht die Freiheit des Menschen darin, seine Schicksalhaftigkeit und Zufälligkeit zu erkennen und anzunehmen? Eigene Freiheits-, Wahrheits- und Authentizitätsbestrebungen kollidieren mit den kapitalen Systemen ebenso wie mit den natürlichen, sozialen und geistigen Entropie-, Schicksals- und Kontingenzmächten, die uns fordern. Das andere Leben ist auch ein absurdes Leben. Mein Leben ist ein Leben der Zufälligkeiten.

Tagebücher, politische Kultur

2017/18 habe ich ein Sabbath-Jahr gemacht und zehn Monate auf „unserer“ Finca in den Bergen von El Hierro gelebt, gegärtnert und Tagebücher geführt. Seit dem vorzeitigen Ende des Unterrichtens 2021 schreibe ich wieder und gebe seit 2020 mit dem Verleger Derk Janssen die interdisziplinäre Zeitschrift „Sukzession – Zwischengänge: Natur, Demokratie, Kunst“ heraus. Mit ihm teile ich die Idee, dass unser Menschsein und eine teilhabende Demokratie sich durch Natur und Kunst erweitern und vertiefen lassen. Und dieses Menschsein ergibt sich lernend und handelnd – im schillerschen Sinne – aus dem „Spiel“ in einer „ästhetischen Selbstformung“. Wir plastizieren allein und gemeinsam unser Dasein. Aus einer „sozialen Plastik“ (Beuys) kann eine „individuelle Mythologie“ (Szeemann) werden. Eine solche gibt der eigenen Existenz – bei aller schönen und unschönen Zufälligkeit – Sinn und Zufriedenheit.

Seit 2021 ziehen Dominique und ich uns halbjährig zurück auf eine Finca in den Bergen von El Hierro, sind halbjährig in Deutschland und der Schweiz und entdecken – durch unsere Kinder und Enkel – das Reisen wieder. Das „endlose Land“ (Serengeti) wird zum Sehnsuchtsmotiv. El Hierro und Afrika helfen, die Krisen der kapitalen Gesellschaften aus einer anderen Perspektive zu sehen. Und so könnte es vielleicht gelingen, ein weniger kapitales, ein erweitertes und vertieftes Leben zu leben.